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  Oktober 2020

Griechische Flüchtlingskrise Redux:
Made in Germany


Tausende marschieren am 20. September in Berlin in Solidarität mit Flüchtlingen, die nirgendwo bleiben können, nachdem das stark überfüllte Lager Moria auf Lesbos, Griechenland, bis auf den Grund niedergebrannt war. Mit Schildern wurde aufgerufen, das Lager zu räumen, und besagt: "Wir haben Platz." (Foto: Stephanie Loos / AFP)

Am 9. September, einen Tag nach dem Brand, der das Flüchtlingslager Moria in Griechenland verzehrte, gingen Tausende Demonstranten in Berlin auf die Straße. Sie zogen vom Hauptbahnhof aus um ihre spontane Sympathie für die Flüchtlinge und Empörung über ihre Behandlung kundzutun. Am selben Tag gab es laut dpa Proteste von 1.800 Demonstranten in Leipzig und 1.200 in Hamburg. Einer der Redner der Berliner Demo bezeichnete Moria als „den größten Slum Europas“ (Die Tageszeitung [taz], 10. September). Der Hauptslogan lautete „wir haben Platz“, ein anderer war „Leave No One Behind“ (Lasst niemanden zurück). Laut der Webseite InfoMigrants (25. November 2019) lag ein Schwerpunkt auf den Kindern, die mehr als 45 % (7.200) der geschätzten 16.000 Flüchtlinge ausmachen, die in und um das Moria-Lager auf Lesbos leben. Noch größere Demonstrationen fanden am 20. September in Städten in ganz Deutschland statt.

Die Forderungen der Demonstranten richteten sich größtenteils an Innenminister Seehofer, einen hartgesottenen Gegner von Einwanderung, und an Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sie aufforderten, die Flüchtlinge mit offenen Armen aufzunehmen. Diese beiden sind jedoch direkt dafür verantwortlich, die Flüchtlinge in Lagern in Griechenland und anderswo festzuhalten, um die Zahl der Asylsuchenden, die nach Deutschland gelangen, möglichst gering zu halten. Nach Angaben der Vereinigung Seebrücke haben 170 deutsche Städte und Gemeinden angeboten, Flüchtlinge aufzunehmen, wurden jedoch von der Bundesregierung blockiert (RBB, 9. September). Während die Redner der Demos vom 9. September ein „soziales Europa“ forderten, ist die rassistische Behandlung von Flüchtlingen durch die EU ein wesentlicher Bestandteil des von Deutschland dominierten imperialistischen Bündnisses.

Schließlich kündigte Merkel an, dass etwa 2.750 Personen aufgenommen würden, darunter mehrere hundert Kinder, die medizinische Hilfe benötigen. Dies war ein Werbegag, da viele von ihnen aus anderen Teilen Griechenlands stammten und ihre Asylanträge bereits vor dem Brand in Moria genehmigt worden waren. Darüber hinaus sind die Internierungslager in Deutschland in einem schlechten Zustand und die dortigen Asylbewerber wurden von COVID-19 schwer getroffen. Das Hauptargument der Kanzlerin war die Behauptung, dass das Migrationsproblem nicht nur in der Verantwortung von Deutschland liege, sondern „eher in europäischer Verantwortung“. Dublin III und andere Vorschriften, die vorsehen, dass Flüchtlinge in die Länder zurückgeschickt werden, wo sie die EU zuerst betreten haben (wie Griechenland und Italien), wurden jedoch aufgrund des deutschen Drucks erlassen. Und nach dem im vergangenen Jahr verabschiedeten „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ wurden von September 2019 bis zum vergangenen Februar über 10.000 Flüchtlinge aus Deutschland abgeschoben, weitere 13.000 Deportationsfälle sind in Bearbeitung.

Während Rechte die Hysterie gegen Einwanderer aufpeitschten, war die Aufnahme von mehr als 1 Million Flüchtlingen im letzten Quartal 2015 nicht von „humanitärer“ Besorgnis angetrieben. Deutschlands bürgerliche Herrscher haben ein Problem. Seit Jahren befindet sich die Geburtenrate des Landes im freien Fall und hat 2015 sogar Japan überholt, um die niedrigste Geburtenrate der Welt zu erreichen. „Die sinkende Geburtenrate in Deutschland bedeutet, dass der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter – zwischen 20 und 65 Jahren – von 61 % auf 54 % bis 2030 sinken würde“, sagte der Direktor des Hamburger Instituts für Internationale Wirtschaft (BBC, 29. Mai 2015). Laut einem Vorstandsmitglied der globalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO hätte Deutschland dadurch höhere Lohnkosten. „Ohne starke Arbeitsmärkte kann Deutschland seinen wirtschaftlichen Vorsprung auf lange Sicht nicht halten“. Als Bilder des ertrunkenen dreijährigen syrischen Flüchtlings Alan Kurdi inmitten einer Massenmigration aus Syrien die Welt erschütterten, fand Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Lösung: die sogenannte „Offene-Tür“-Politik.

Im Herbst und Winter 2015 wurden über 1 Million Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen. Viele stammten aus dem gebildeten, städtischen, nicht-islamistisch gesinnten arabischen und kurdischen Kleinbürgertum Nordsyriens, mehrheitlich sunnitische Muslime. Sie waren gegen das baathistische Militärregime von Bashar al Assad eingestellt, aber abgestoßen von den Köpfe abschneidenden Dschihadisten-Rebellen, die von der CIA und dem US-Außenministerium finanziert werden. Ein Artikel in The Atlantic (26. Juli 2017) analysierte „Warum Deutschlands neue Muslime weniger in die Moschee gehen“ und stellte fest, dass die jüngsten „Flüchtlinge sich von der Religion abwenden“. Als sich eine Gelegenheit bot, versuchten sie, dem Kampfplatz des Nahen Ostens zu entkommen, und machten sich auf den Weg zur relativen Stabilität und Ruhe West- und Nordeuropas. Merkel nutzte diese Flüchtlinge als Quelle billiger, qualifizierter Arbeitskräfte, um den deutschen Arbeitsmarkt zu stützen – und um einen PR-Sieg für das Vierte Reich zu erzielen und dabei die angebliche Großmut des deutschen Imperialismus zu demonstrieren.

Der Rückschlag folgte auf dem Fuß. Bei den Landtagswahlen 2016 nahm die faschistoide Alternative für Deutschland (AfD), die ihre Kampagne auf einer bösartigen Anti-Einwanderer-Plattform führte, in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt drastisch zu und erhielt zweistellige Stimmenanteile. Bei den Bundestagswahlen 2017 gewann die AfD 12,6 % der Stimmen und 94 Sitze im Bundestag. In einem Text, den man mit einer Passage aus Mein Kampf hätte verwechseln könnte, hat der Schriftsteller Botho Strauss der reaktionären Galle Ausdruck gegeben, die überall in Deutschland abgesondert wurde: „Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird.“ (Der Spiegel, 2. Oktober 2015)

In einem Annäherungsmanöver an die Anhänger der AfD versuchte Merkel, die ihre umkämpfte christdemokratische Regierung retten wollte, der Türkei das „Flüchtlingsproblem“ unterzuschieben. 2016 schloß sie mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen Vertrag, der syrische Flüchtlinge – im Austausch zu einer wirtschaftlichen „Hilfe“ in Höhe von 3 Milliarden Euro – in der Türkei einsperren sollte. Zu dieser Zeit waren rund 3 Millionen Flüchtlinge in der Türkei gestrandet. Erdoğan war glücklich als deutscher Grenzschutzbeamter zu fungieren und im Austausch dafür den Hebel gegenüber der EU ansetzen zu können. Zur gleichen Zeit waren in ganz Europa rechtsextreme Regierungen auf dem Vormarsch, insbesondere in Ungarn und Polen, wo die Regime von Viktor Orban und Andrzej Duda sich brutal gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aussprachen und sich der deutschen Kontrolle über den imperialistischen Block widersetzten, stattdessen in Richtung des rassistischen US-Präsidenten Donald Trump blickend.

Wir springen in das Jahr 2020 und der Türkische Präsident Erdoğan hat die Drohung, Migrantenflüchtlinge nach Europa „von der Leine zu lassen“, als Hebel für seine Invasion und Besetzung Nordsyriens benutzt. Ende Februar und Anfang März brachte die türkische Regierung Tausende von Flüchtlingen in Bussen an die griechisch-türkische Landesgrenze, wo griechische Grenzschutzbeamte und Soldaten Tränengas und Gummigeschosse auf Menschen abfeuerten, die versuchten, ins Land zu gelangen. Die griechische Regierung setzte außerdem Asylanträge für einen Monat aus und führte Abschiebungen im Schnellverfahren durch. Und, wie einer Seite aus dem CIA-Drehbuch entnommen, es wurden Migranten ohne Kontakt zur Außenwelt an „Black Sites“ (Geheimgefängnisse) nahe der Grenze festgehalten (New York Times, 10. März):

„Mehrere Migranten sagten in Interviews, sie seien gefangen genommen, ihrer Habseligkeiten beraubt, geschlagen und aus Griechenland ausgewiesen worden, ohne die Möglichkeit zu haben, Asyl zu beantragen oder mit einem Anwalt zu sprechen, im Rahmen eines illegalen Verfahrens, das als ‚Refoulement‘ (Zurückweisung) bezeichnet wird. In der Zwischenzeit sagten türkische Beamte, dass in den letzten zwei Wochen mindestens drei Migranten erschossen worden waren, als sie versuchten, nach Griechenland einzureisen.“

Die Polizei wurde von rassistischen Bürgerwehren, sowohl auf den Grenzinseln als auch entlang der Landgrenze, unterstützt, die Patrouillen und Straßensperren bildeten, um Migranten zusammenzutreiben sowie Helfer und Journalisten anzugreifen (New York Times, 7. März). Die Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen hat in den letzten Jahren so stark zugenommen, dass im März rund 1.000 mit Schrotflinten und Brandbomben bewaffnete Personen die Polizei in einem Armeelager auf Lesbos belagerten, um gegen Pläne zum Bau neuer Lager zu protestieren. Die Stimmung auf den Ägäischen Inseln war den Flüchtlingen gegenüber nicht immer feindlich. Als 2015 eine große Anzahl von Menschen auf Lesbos ankam, halfen die Inselbewohner, sie aus dem Meer zu holen, und spendeten aus Solidarität Kleidung und Lebensmittel. Die derzeitige Feindseligkeit ist ein direktes Ergebnis der Politik der griechischen Regierung (zuerst unter SYRIZA, jetzt ND), die Flüchtlinge auf den Inseln zurückzuhalten und gleichzeitig das Leben der Anwohner unerträglich zu machen.

Die Reaktion Deutschlands war typisch für seine Strategie, die Drecksarbeit an Griechenland zu delegieren. „Ich danke Griechenland, dass es in diesen Zeiten unser europäischer aspida [Schutzschild] war“, sagte Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission (und ehemalige deutsche „Verteidigungs“ministerin), auf einer Pressekonferenz mit Mitsotakis (The Guardian, 3. März). Und weiter aus diesem Anlass:

„Sie kündigte EU-Mittel in Höhe von 700 Mio. Euro (609 Mio. GBP) für Griechenland an, einschließlich 350 Mio. Euro, die sofort für die Modernisierung der Infrastruktur an der Grenze zur Verfügung stehen. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex stellt eine ‚schnelle Einsatztruppe‘ auf, die ein Offshore-Schiff, sechs Küstenpatrouillenboote, zwei Hubschrauber, ein Flugzeug, drei Wärmebildfahrzeuge sowie 100 Grenzschutzbeamte umfasst, um 530 griechische Offiziere an Land- und Seegrenzen zu verstärken.“

Der Brand von Moria Anfang September erhöhte die Dringlichkeit für den deutschen Imperialismus und veranlasste die Europäische Kommission, ihren sogenannten Neuen Pakt zu Migration und Asyl zu veröffentlichen. Die drakonischen Bestimmungen des Pakts erleichtern es EU-Grenzländern wie Griechenland und Italien, Abschiebungen zu beschleunigen. Es schlägt „ein schnelleres Asylgrenzverfahren mit Entscheidungen innerhalb von 12 Wochen und rascher Rückführung gescheiterter Antragsteller“ vor, mit „flexiblen Optionen“ dafür, wie EU-Mitgliedstaaten z. B. „Neuankömmlinge aufnehmen, Rückführungen ‚sponsern‘ ... [oder] sofortige operationelle Hilfe leisten“ (BBC, 23. September). In einem Foreign Policy-Artikel vom 4. Oktober beschrieb ein bürgerlicher Kommentator den Deal treffend:

„In dem Versuch, mittel- und osteuropäische Länder zu beschwichtigen, die der Aufnahme von Asylbewerbern feindlich gegenüberstehen, schlägt die Kommission in einer orwellschen Wendung vor, dass sie ‚Umsiedlungs- und Rückkehrhilfen‘ in Anwendung bringen sollten, um die Menschen zu verteilen, denen die Einreise in ihre Herkunftsorte verweigert werde. Diese Art von Aufgabe ist normalerweise Nachtclub-Türstehern vorbehalten.“  ■