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  September 2021

Berliner Volksentscheid

Entschädigungslose Enteignung der Immobiliengesellschaften –
Nur sozialistische Revolution kann Wohnraum für alle schaffen

Berlin 2021: Die Mieten schießen durch die Decke, Studenten finden keine Wohnung, Menschen werden aus der Stadt vertrieben, weil sie es sich nicht leisten können, hier zu leben. Etwa 8.000-10.000 Obdachlose leben auf der Straße, während über 100.000 Wohnungen leer stehen. Die Hauptstadt und viele andere Städte in Deutschland befinden sich in einer echten Wohnungskrise. Dahinter stehen die Immobilienkonzerne, die mit Spekulationen einen Riesengewinn     machen. Die Mieterbewegung hat immer wieder Zehntausende auf die Straße gebracht, um die Mietpreiskontrolle zu verteidigen, und nun für die Initiative zur „Enteignung von Deutsche Wohnen & Co.“, der 114.000 Wohnungen in Berlin gehören, neben Vonovia (43.000), Akelius und anderen Immobilienhaien, die zusammen 240.000 der 1,5 Millionen Wohnungen in der Stadt in ihrer Hand haben.

Wer beim Berliner Volksentscheid am 26. September mit „Ja“ für die Enteignung von Unternehmen stimmt, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen, setzt ein Zeichen des Protests gegen diese Schmarotzer. Es wird auch dazu dienen, Artikel 15 der Verfassung zu testen, der die „Vergesellschaftung“ oder Überführung von „Grund und Boden, natürlichen Ressourcen und Produktionsmitteln“ in öffentliches Eigentum erlaubt. Bemerkenswert ist, dass dies der erste derartige Versuch in der Geschichte der Bundesrepublik ist. Aber bei dem Volksbegehren geht es nicht um ein konkretes Gesetz, so dass es, selbst wenn es angenommen wird, von den bürgerlichen Grünen und/oder der reformistischen SPD und Linkspartei abhängt, ob es umgesetzt wird (oder, was wahrscheinlicher ist, ob es verwässert wird). Und natürlich gibt es absolut keine Garantie dafür, dass die kapitalistischen Gerichte nicht willkürlich die föderalistischen „Prinzipien“ umgestalten, um die Ergebnisse des Referendums für ungültig zu erklären.

Schon die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im April, den Berliner Mietendeckel aufzuheben, war ein Angriff auf alle Werktätigen und Mieter in Berlin. In der Folge wurden die Mieter mit monatlichen Mieterhöhungen von Hunderten von Euro konfrontiert und schulden nun teilweise Mietrückstände in Höhe von Tausenden von Euro. Nach Ansicht des Gerichts wurde der Berliner Mietendeckel 2020 durch das Bundesmietrechtsgesetz von 2015 außer Kraft gesetzt. Dieses Gesetz ermöglicht es Einzelpersonen in ausgewählten städtischen Gebieten, gegen Mieterhöhungen von 10 % über den durchschnittlichen Mietsteigerungen in diesen Gebieten vorzugehen. Dieses schwache Gesetz sieht sehr nach einem Präventivschlag aus, um wirksamere Maßnahmen zur Mietpreiskontrolle zu verhindern – was zweifellos der Grund ist, warum die Regierungsparteien CDU und SPD es unterstützt haben.

Dies ist nicht der erste derartige Angriff des Verfassungsgerichts auf die Berliner. Im Oktober 2006 entschied es, dass die Stadt keine Bundeszuschüsse erhalten kann, solange sie nicht die Ausgaben für Bildung und Kultur weiter kürzt und den öffentlichen Wohnungsbestand verkauft. Die Landesregierung aus SPD und PDS (Vorläuferin der Linkspartei) beeilte sich, dem Urteil nachzukommen. Schon bald nach seiner Einsetzung im Jahr 1951 verbot das Gericht die KPD und bestätigte repressive Gesetze gegen Homosexuelle. Später kippte es das Abtreibungsgesetz von 1992, indem es das Abtreibungsverbot des § 218 des Strafgesetzbuchs aufrechterhielt (wobei es dem Parlament überließ, Schwangerschaftsabbrüche im ersten Trimester nicht zu bestrafen). Und es hat grünes Licht für die militärischen Abenteuer des deutschen Imperialismus im Ausland gegeben.

Kurz gesagt, das Bundesverfassungsgericht ist kein neutraler Schiedsrichter für „Gerechtigkeit“, sondern Verteidiger des Kapitals und Vollstrecker der kapitalistischen Herrschaft. Wer wie die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) in einem Aufruf zur öffentlichen Versammlung am 21. April die Parole „Kein Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht“ ausgibt, behauptet dagegen, dieses zentrale Organ des deutschen bürgerlichen Staates sei lediglich unzuverlässig und kein direkter Vertreter des Klassenfeindes.

Die Mietpreiskontrolle hat in verschiedenen Formen, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in Deutschland und anderswo als ein Aspekt des kapitalistischen Sozialstaates existiert. Sie ist eine minimale Reform, die der Arbeiterklasse zugute kommen kann, ähnlich wie der Mindestlohn. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist völlig legitim, für die Mietpreiskontrolle zu kämpfen, sie zu verteidigen und auszuweiten, ohne so zu tun, als sei sie irgendeine Lösung für die Wohnungskrise – was sie nicht ist. Die SPD/Grüne/Linke-Regierung hatte keinen Plan B für die Zeit nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und hat das Urteil nicht angefochten.

Dies entlarvt die Rolle der Linkspartei bei der Schönfärberei der rot-rot-grünen Koalition, denn der Mietendeckel war ihre Rechtfertigung für die Beteiligung an dieser rassistischen, repressiven kapitalistischen Regierung. Eine bundesweite Kampagne für einen neuen Mietendeckel zu fordern und nur die CDU als Partei der Immobilienkonzerne anzuprangern, wie es die Linkspartei jetzt tut, ist die Vertuschung der schmutzigen Rolle der SPD und der Linkspartei selbst bei der früheren Privatisierung des kommunalen Wohnungssektors und bei der Durchführung von Zwangsräumungen von Mietern und Hausbesetzern jetzt im Rahmen der Regierung.

Was ist nun angesichts der Mieterhöhungen und Nachzahlungen zu tun? Die Regierung hat denjenigen, die die erhöhten Mieten nicht zahlen können, finanzielle Unterstützung zugesagt. Es gibt jedoch keine Informationen darüber, wie diese Hilfe geleistet werden soll. Die Sozialistische Alternative (SAV) beschwört die Phantasiewelt einer „linken Regierung“ herauf, die Mieter dazu ermuntern würde,  „die Nachzahlung der zu wenig bezahlten Mieten zu verweigern“ und die „die Finanzierung von Nachzahlungen und Prozesskosten aus öffentlichen Geldern zusichern“ würde (www.sozialismus.info, 21. April). Ähnliches von der Sozialistischen Organisation Solidarität (SOL), die sich eine wirklich „linke Regierung“ vorstellt, die garatieren würde, „das Risiko für Straf- bzw. Nachzahlungen zu übernehmen“ (Solidarität, 18. April). Darauf sollte man nicht wetten. Natürlich rufen die SAV und SOL beide dazu auf, wie immer die Linkspartei zu wählen.

Von den angeblich „extrem linken“ Gruppen ruft nur ArbeiterInnenmacht tatsächlich zu einem Mietstreik auf. Aber während sie sich eine Massenbewegung der Mieter „gestützt auf die Massenorganisationen der ArbeiterInnenbewegung“ vorstellt, unterstreicht sie, dass dies dazu dienen würde, „Druck auf die zukünftige Landesregierung aus[zu] üben“. So ruft sie dazu auf, die Linkspartei zu wählen und sie aufzufordern, „dass Vergesellschaftung für die Linkspartei Koalitionsbedingung sein muss“, sowie Druck auf den „linken“ Flügel der SPD und die bürgerlichen Grünen auszuüben (Neue Internationale, September 2021). Statt sich also prinzipiell gegen diese Koalition der Klassenkollaboration zu stellen, will ArbeiterInnenmacht eine mieterfreundliche Volksfront. Und während sie schreibt „Enteignung? Klar! Entschädigung? Nein Danke!“ fordert sie im Kleingedruckten, „die Entschädigung so gering wie möglich zu halten“.

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Berliner Mietendeckel gekippt hat, rief seinerseits RIO zu Arbeitsniederlegungen gegen Mieterhöhungen auf, forderte aber im nächsten Atemzug die Regierung auf, Mietern, die Miete nachzahlen mussten, Geld zu geben und Unternehmen, die Rückzahlungen verlangen, „massiv zu besteuern“ (Klasse gegen Klasse, 16. April). Da es aber keine Mietpreisbegrenzung gibt, würde dies in Form von neuen Mieterhöhungen weitergegeben werden. Beim Volksentscheid konzentriert sich RIO auf die Forderung nach entschädigungsloser Enteignung der Immobiliengesellschaften. Revolutionäre sind natürlich dagegen, auch nur einen Euro an diese Schmarotzer zu zahlen. Doch die Verfassungsklausel, auf die sich dieses Referendum stützt, verpflichtet zu einer Entschädigung.

In ihrer Propaganda ruft RIO den DGB dazu auf, „ein Recht auf Wohnen [zu] erstreiken“ (Klasse gegen Klasse, 2. September). Als ob das so einfach wäre. In einem anderen Beitrag fordert sie „keine Profite mit der Miete“ und ein „massive[s] Programm des sozialen Wohnungsbaus, finanziert aus Vermögenssteuern und den Profiten der großen Immobilienkonzerne“ (Klasse gegen Klasse, 8. September). Dies ist die übliche „Reichensteuer“-Rhetorik, die alle Reformisten und bürgerlichen „Fortschrittlern“ gemeinsam ist. Und da das Volksbegehren für eine kommunale Übernahme von etwa einem Siebtel des Berliner Wohnungsbestandes von der Landesregierung umgesetzt werden müsste, läuft der Aufruf von RIO, obwohl mit etwas kämpferischerer Sprache, wie der von SAV, SOL und ArbeiterInnenmacht, auf eine Drucktaktik gegenüber der Volksfront hinaus.

Die Kommunalisierung wäre eine unterstützenswerte Mindestreform, aber kein erster Schritt zum „Sozialismus“. Sie würde lediglich verschiedene Betriebe, die nach 2006 veräußert wurden, wieder unter staatliche Kontrolle stellen. Sie könnte vielleicht den rasanten Anstieg der Mieten für einige Mieter bremsen. Doch der Bedarf an neuen Wohnungen wäre damit nicht gedeckt. Statt Sozialwohnungen zu bauen, kauft der „rot-rot-grüne“ Senat nun zu überhöhten Preisen heruntergekommene Wohnungen zurück, die er zuvor (zu Spottpreisen) an Deutsche Wohnen und Vonovia verkauft hatte. Einige in der Bewegung für den Volksentscheid stellen sich ein System vor, in dem Vertreter der Mieter und Arbeiter an der Verwaltung der kommunalisierten Wohnungen beteiligt werden. Aber wenn diese Pläne von einer kapitalistischen Regierung umgesetzt werden, wären sie bestenfalls symbolisch und würden, wie Gewerkschaftsbürokraten, die in den Aufsichtsräten von Unternehmen sitzen, dazu beitragen, die Arbeiterklasse an die Bosse zu ketten.

Angesichts der Tatsache, dass Millionen von Menschen, die vom Coronavirus und den daraus resultierenden Schließungen betroffen sind (Kleinunternehmer, Freiberufler, Kurzarbeiter), nicht in der Lage sind, ihre Miete zu zahlen, verteidigen echte Revolutionäre Mietstreiks und Widerstand gegen Zwangsräumungen. Leerstehende Wohnungen, die in Berlin so zahlreich sind, dass sie alle Obdachlosen beherbergen könnten, sollten mit Unterstützung der Arbeiterbewegung besetzt werden, damit niemand während dieser Pandemie auf die Straße gesetzt wird. Aber stattdessen hat die rot-rot-grüne Regierungskoalition die Gelegenheit genutzt, verschiedene besetzte Gebäude/Zentren zu liquidieren (Liebig 34 im letzten Herbst, Meuterei in diesem Jahr) sowie Obdachlosenlager zu räumen, die den Immobilienhaien in die Quere kommen. Die Mobilisierung der Arbeiterbewegung gegen solche Angriffe ist essentiell.

Neben dem Berliner Mieterverein unterstützen eine Reihe wichtiger Gewerkschaften das Volksbegehren „Enteignet Deutsche Wohnen“, darunter die GEW (Bildung), Ver.di (Dienstleistungen), IG Metall und IG Bau. Ihre Kraft muss genutzt werden, um auch nur minimale Reformen zu verwirklichen, zumal SPD und Grüne das Volksbegehren zwar nicht rundweg ablehnen, aber keinen Appetit auf Enteignungen jeglicher Art haben. Aber die verschiedenen angeblich revolutionären Gruppen in und um die Linkspartei betreiben hauptsächlich die Politik des Druck-Ausübens auf die kapitalistische Regierung, während sie mit ihren verschiedenen Plänen zur Lösung der Wohnungskrise im Kapitalismus „rosa Seifenblasen“ pusten. Das ist nur kommunaler Reformismus, während revolutionärer Klassenkampf gefordert ist.

Die vor fast anderthalb Jahrhunderten verfasste Broschüre von Friedrich Engels Zur Wohnungsfrage (1873) war eine Polemik gegen die kleinbürgerlichen Sozialisten seiner Zeit, insbesondere gegen Pierre-Joseph Proudhon mit seinem Vorstoß für Wohneigentum für die Arbeiter. Dem Proudhonisten zufolge, so Engels, „soll das in Häuser investierte Kapital keine Zinsen abwerfen“, so wie heute RIO „keine Gewinne aus der Miete" fordert. Engels fährt fort:

„Soviel aber ist sicher, daß schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen »Wohnungsnot« sofort abzuhelfen. Dies kann natürlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer, resp. durch Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder in ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehen, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat, wird eine solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel ebenso leicht ausführbar sein, wie andere Expropriationen und Einquartierungen durch den heutigen Staat.“

Engels’ Schlussfolgerung lautet: „Und solange die kapitalistische Produktionsweise besteht, solange ist es Torheit, die Wohnungsfrage oder irgendeine andre das Geschick der Arbeiter betreffende gesellschaftliche Frage einzeln lösen zu wollen. Die Lösung liegt aber in der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, in der Aneignung aller Lebens- und Arbeitsmittel durch die Arbeiterklasse selbst.“

In der Propaganda der opportunistischen Linken zur Wohnungsfrage in Berlin sucht man vergeblich nach Aufrufen zur sozialistischen Revolution. Um „bezahlbaren Wohnraum" zu erreichen, fordern sie allenfalls „Vergesellschaftung“, „Verstaatlichung unter demokratischer Kontrolle“, „sozialistische Maßnahmen“, „entschädigungslose Enteignung“ oder sogar gelegentlich den „Sozialismus“, alles aber ohne den kapitalistischen Staat zu Fall zu bringen. Stattdessen versuchen sie alle, Druck auf diesen Staat auszuüben, um die Krise zu lösen. Letztendlich kann die Lösung der Wohnungsfrage nur im Rahmen einer kollektivierten Planwirtschaft erfolgen. Und wie der Zustrom von schwedischem und US-amerikanischem Kapital in den Berliner Wohnungsmarkt unterstreicht, bedeutet die Beseitigung der Parasiten eine internationale sozialistische Revolution. ■