Hammer, Sickle and Four logo

  Frühling 2021

Mobilisiert die Macht der Arbeiterklasse um rassistischen/faschistischen Terror zu stoppen!

Die Linkspartei ist eine reformistische Sackgasse – Schmiedet eine revolutionäre Arbeiterpartei!

Deutscher Kapitalismus
rüstet sich für den Klassenkrieg

Bürgerlicher Konsens schließt die Reihen hinter faschistisch verseuchter Polizei und Armee


Berliner Polizei hat den Demonstrationszug bei der Luxemberg-Liebknecht-Demo am 11. Januar brutal angegriffen.  (Foto: Christophe Gateau / dpa)

„Die Dividenden steigen und die Proletarier fallen,“ schrieb die revolutionäre Marxistin Rosa Luxemburg während des Schlachtens des Ersten Weltkriegs. Ein Jahrhundert später, inmitten der Corona-Pandemie, sind in Deutschland 75.000 (zum Stand vom 25.3.2021) an der Pandemie gestorben – eine Opferzahl, die sich seit dem 1. Januar mehr als verdoppelt hat – von 2,7 Millionen weltweit. Dennoch schossen die Dividenden der 30 führenden DAX-Unternehmen bis Ende 2020 auf 37 Mrd. Euro hoch, ein Plus von 14 % gegenüber dem Vorjahr. Obwohl eine vollständige wirtschaftliche Erholung erst für 2022 erwartet wird, stellte die Wirtschaftspresse fest, dass die Exporte der deutschen Industrie sich „widerstandsfähig“ gezeigt haben.

Bis zum Sommer schien Deutschland die Ausbreitung des Virus mit seinem Test- und Isolationsprogramm und einem relativ großen Verhältnis von Anzahl an Ärzten und Krankenhausbetten pro Bevölkerung begrenzt zu haben. Letztlich erwiesen sich die „Lockdown light“-Maßnahmen als unzureichend, nicht nur wegen der Sommerferien oder wegen der Partygänger in Berlin oder irgendwelcher individueller Verhaltensweisen. Die „zweite Welle“ war vor allem darauf zurückzuführen, dass Land und Bund auf Druck kapitalistischer Interessen Reisebeschränkungen aufhoben und eine breite Wiedereröffnung des Handels zuließen, und darauf, dass Millionen von Arbeitern in Großbetrieben unter unsicheren Bedingungen und mit völlig unzureichendem persönlichem Schutz schuften.

Das hat zu großen Ausbrüchen geführt, vor allem in den Fleischverarbeitungsbetrieben von Tönnies und in den Verteilzen­tren von Amazon, die im Dezember zu „Hot Spots“ wurden, in denen ein Viertel oder mehr der Arbeiter in Bayern (Bayreuth) und Baden-Württemberg (Graben) infiziert waren, da das Unternehmen zahnlose Beschwerden der Gewerkschaft ver.di einfach abtat. Selbst der erneute „harte Lockdown“ im Winter 2020-21 hat solche Firmen ausgenommen. In den USA, wo Amazon über 20.000 COVID-Fälle gemeldet hat, haben unsere Genossen von der Internationalist Group und Class Struggle Workers – Portland dafür agitiert, dass die Arbeiter über Arbeiterschutzkomitees Maßnahmen unternahmen, um unsichere Arbeitsstätten stillzulegen, sowie für eine Reihe von Übergangsforderungen (siehe Seite 15).

Die neue Coronavirus-Welle verdeutlichte die Kluft zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut, indem sie die Grenzen der Krankenhauskapazitäten testete. In diesem Zusammenhang war es eine kaltblütige Provokation, als die Bertelsmann Stiftung – jene Hohepriester des Profitsystems, die offenbar freidemokratische, christdemokratische und sozialdemokratische Parteiprogramme inspirieren – ihre Forderungen nach einem weiteren Abbau dieser Kapazitäten durch die Schließung von mehr als der Hälfte der Krankenhäuser in Deutschland, von 1.400 auf 600, wiederholte und gleichzeitig beklagte: „In Deutschland kommen immer noch zu viele Patienten in die Krankenhäuser“ (tagesschau, 28. Dezember 2020)! Schon lange vor der Pandemie kursierten in der Bourgeoisie Pläne zum Abbau des Gesundheitswesens und zur Erhöhung des Renteneintrittsalters.

Diese wurden nun konkretisiert durch des Stahl- und Autoindustriekartell Gesamtmetalls „Vorschläge für die 2. und 3. Phase der Corona-Krise“ vom Mai 2020. In ihrem Plan fordern die Chefs der metallverarbeitenden Industrie, dass es „keine Steuererhöhungen“ und „keine neuen Steuerbelastungen“, insbesondere Umweltabgaben, geben dürfe. Der Plan wendet sich gegen die geplante Begrenzung von befristeten Arbeitsverträgen und pocht auf das Recht, Verträge aus beliebigen Gründen zu beenden (alles im Namen der „Flexibilität“) oder auf befristete Arbeitsplätze; es wird das Ende der Rente mit 63 gefordert, eine Absenkung des Mindestrentensatzes und ein Ende der „enorm teuren“ Mütterrenten! Das wäre sicherlich „Sozialabbau in historischer Dimension“, wie Hans-Jürgen Urban von der IG Metall es treffend nannte.

Die Forderungen der Metallbosse nach einem „Belastungsmoratorium“ richteten sich zwar an die regierende CDU-SPD-Koalition, aber angesichts der zunehmenden Wahrscheinlichkeit ihrer Ablösung durch eine CDU-Grünen-Koalition sollte man sich daran erinnern, dass die letzten dramatischen Sparmaßnahmen „historischer Dimension“ – verkörpert im Hartz-IV-Programm von 2004, das quasi unbezahlte Zwangsarbeit („Ein-Euro-Jobs“) und steile Leistungskürzungen für Arbeitslose einführte – das Werk einer SPD-Grünen-Regierung waren. Die Linkspartei ist ebenfalls mitschuldig bei der Verwaltung der kapitalistischen Austerität in verschiedenen Bundesländern, einschließlich der langsamen Zerstörung des öffentlichen Verkehrs durch Privatisierung in Berlin.

Die deutsche Bourgeoisie plant eine neue Offensive gegen den Lebensstandard der Arbeiter, verbunden mit erheblichen Steigerungen der Militärausgaben. Sie antizipiert und bereitet sich auf die Zerschlagung sozialer Revolten vor – die neuen „Anti-Terror“-Panzerwagen, die von den Spezialeinheiten verschiedener staatlicher Polizeikräfte vorgefahren werden, sind Waffen für den internen Krieg, wie das Polizeiarsenal, das während des G20-Gipfels 2017 in Hamburg zum Einsatz kam (siehe „Hexenjagd auf Linke nach Polizeistaatsgipfel in Hamburg“, Permanente Revolution Nr. 2, Sommer 2018). Deshalb haben sich alle bürgerlichen Parteien und auch die beiden sozialdemokratischen Parteien dafür stark gemacht, der Polizei trotz der fast wöchentlichen Enthüllungen über ihre Verseuchung mit faschistischen Elementen Persilscheine auf gute Führung auszustellen.

In der Zwischenzeit breitet sich das Coronavirus mit erhöhten Positivitätsraten weiter aus, so dass der verschärfte Lockdown nun bis Ende März verlängert wurde, während Virologen sagen, dass die erste Hälfte des Jahres 2021 „kompliziert“ sein wird – d. h. schlimm, und schlimmer. Und die Impfstoffverteilung ist ein Chaos: Die Lieferung verzögert sich, die bestellten Mengen sind unzureichend und nur die Hälfte der vorhandenen Mengen wird verabreicht. Im Gegensatz dazu wurde in China mit seiner sozialisierten Planwirtschaft das Virus durch strenge Quarantäne, Isolierung und Behandlung aller Infizierten sowie den blitzschnellen Bau von Krankenhäusern zur Behandlung von Tausenden von COVID-Patienten wirksam eingedämmt. Dadurch konnte das Land schon früh vorsichtig wieder geöffnet werden, mit weniger als 4.800 Todesfällen von 1,5 Milliarden. Die Corona-Krise ist der Beweis: Der Kapitalismus tötet. Wir müssen für die Revolution kämpfen!

Faschistische Verseuchung bei Polizei, Armee, Geheimdiensten

Die Meldungen über faschistische oder faschistoide Polizisten, Soldaten, Bundeswehroffiziere, Verfassungsschutzbeamte, Bundes­nach­richtendienstler und Staatsanwälte häufen sich Woche für Woche, Monat für Monat. In allen Bereichen des Polizei-, Militär- und Geheimdienstapparates, in allen Teilen Deutschlands: Es ist eindeutig eine Verseuchung. Natürlich werden sie nur als „rechts“, „rechtsextrem“ oder „extremistisch“ eingestuft. Und die Maßnahmen, die ergriffen werden, sind, wenn überhaupt, nur kosmetisch. Kabinettsminister, Verfassungsschutz, Sonderermittler, alle schwören: Null Toleranz. Aber fast immer bleiben die rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen, Pro-Nazi Beamten. Und ganz oft wird der Whistleblower, der den Skandal aufgedeckt hat, versetzt oder entlassen.

Letzten Sommer gab es den Fall des geheimen KSK (Kommando Spezialkräfte), einer Eliteeinheit der Bundeswehr, die mit NATO-Truppen auf dem Balkan und in Afghanistan eingesetzt wurde. 2017 tauchten Berichte über eine Party auf, bei der Mitglieder der Einheit zu faschistischer Musik den Hitlergruß zeigten. Aufgrund von Hinweisen Anfang 2020 durchsuchte der MAD (Militärischer Abschirmdienst) schließlich die Wohnung eines Oberstabsfeldwebels (der seit drei Jahren unter Beobachtung stand), wo sie Nazi-Literatur fanden und ein Arsenal an Waffen, Sprengstoff sowie ein riesiges Versteck mit gestohlener Munition aus Armeebeständen aushoben. Der Ober­stabsfeldwebel wurde verhaftet, KSK-Kommandant Markus Kreitmayr erklärte die Affäre für „schockierend“, eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt und es wurde bekannt, dass der MAD gegen 20 KSK-Soldaten wegen rechtsextremer Verbindungen ermittelte.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp- Karrenbauer kündigte die „Operation Eisener Besen“ an, um den Schlamassel zu bereinigen. In Rekordzeit wurde ein Bericht abgegeben, es wurde öffentlich verkündet, dass 48.000 Schuss Munition (inzwischen auf 85.000 erhöht) aus den Beständen der Spezialkräfte fehlten, dazu 62 Kilo Sprengstoff. Am 30. Juni verkündete Kramp-Karrenbauer, dass eine der vier Kompanien des KSK aufgelöst werde und die Spezialkräfte bis Oktober Zeit hätten, sich zu reorganisieren – als „letzte Chance“. Der Spiegel (4. Juli) titelte: „Braune Hotspots“. Doch im November erklärte ein „Zwischenbericht“ des Generalinspekteurs der Bundeswehr, der Großteil der fehlenden Munition sei auf „Fehlzählungen“ oder „unsachgemäße Buchführung“ zurückzuführen.

Dennoch gibt es immer wieder neue Enthüllungen. Im September wurden 29 Polizeibeamte in Nordrhein-Westfalen, die meisten aus Essen, suspendiert, weil sie in fünf verschiedenen Nazi-Chat-Gruppen Hakenkreuze, Hitler-Bilder und Zeichnungen von Immigranten in einer Gaskammer verbreitet hatten. Ebenfalls im September wurde der Leiter des MAD entlassen, weil er es versäumt hatte, Extremisten im Militär zu erkennen. Im Oktober veröffentlichte der Verfassungsschutz einen 98-seitigen Bericht, der mehr als 1.400 Fälle von mutmaßlichen Nazis und Faschisten („Rechtsextremisten“) bei Militär, Polizei und Geheimdiensten auflistet. Innenminister Horst Seehofer beharrte darauf, dass es „kein strukturelles Problem“ gäbe, aber der von ihm vorgelegte Bericht erklärte, dass die Präsenz hochqualifizierter rechtsextremer Offiziere eine „erhebliche Gefahr für Staat und Gesellschaft“ darstelle.

Dann, pünktlich zum Jahreswechsel 2021, kam die Nachricht, dass eine deutsche Faschistenbande von einem Polizeiwaffenhersteller – diesmal allerdings einem österreichischen – mit schwerer Maschinengewehrmunition beliefert wurde. Es geht nicht nur um fehlende Munition und faschistische Unterwanderung. Eine Reihe von Personen hat Morddrohungen mit der Unterschrift „NSU 2.0“ erhalten, die auf Informationen aus Polizeidatenbanken zurückgehen. Zu den Betroffenen gehören die Anwältin Seda Basay-Yildiz, eine Vertreterin der Opfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, der Nazi-Terrorgruppe, die zwischen 2001 und 2007 mindestens neun Immigranten ermordete, und der Journalist Deniz Yücel. Die Urheber der Morddrohungen sind noch unbekannt, aber die Affäre führte zur Entdeckung eines Netzwerks, an dem Dutzende von Polizisten beteiligt sind.

Dazu kommt der ganze Komplex mit den rechten Überlebenskünstlern, den sogenannten „Preppern“. Dieser umfasst Polizei und Angehörige der Heeresreserve und reicht bis in das KSK hinein. Marko G., ein Scharfschütze bei einem Spezialeinsatzkommando der Polizei von Mecklenburg-Vorpommern, leitete eine „Nordkreuz“-Prepper-Chatgruppe, die sich auf den „Tag X“ vorbereitete, an dem die gesellschaftliche Ordnung zusammenbricht. Zu der Gruppe gehörte ein Rechtsanwalt und Kriminaloberkommissar, der davon sprach, an diesem Tag linke Unterstützer von Immigranten „zu sammeln und umzubringen“. Sie hatten bereits Dutzende von Leichensäcken gekauft (und weitere geordert), Feindeslisten erstellt und 40.000 Schuss Munition gehortet. Mehrere dieser Chatgruppen wurden von einem gewissen „Hannibal“ – dem KSK-Soldaten André S. – moderiert, der auch Uniter anführte, eine paramilitärische Gruppe von Elitesoldaten, Polizisten und Sicherheitsleuten („Der Feind im Innern“, Der Spiegel, 8. August 2020).

Dann gibt es noch „Franco A“, einen Armeeoffizier, der verdächtigt wird, als Flüchtling getarnt, eine Provokation vorbereitet zu haben, der an Uniter-Treffen teilgenommen hat und bei der Wiederbeschaffung einer Waffe, die er im Wiener Flughafen versteckt hatte, festgenommen wurde. Er hatte detaillierte Auskundschaftungen durchgeführt, um die Ermordung der prominenten jüdischen antirassistischen Aktivistin, Anetta Kahane, vorzubereiten. Seine antisemitischen Ansichten (er sagte, das Alte Testament sei eine Blaupause für die Weltherrschaft der Juden, „die größte Verschwörung in der Geschichte der Menschheit“), seine Anprangerung der Einwanderung als Vorbereitung eines „Völkermords“ durch Verwässerung der „Rassenreinheit” und seine offen pro-nazistischen Sympathien waren in einer Magisterarbeit niedergelegt, die von Beamten der französischen Militärakademie in Saint-Cyr, die er besuchte, bemängelt wurde. Aber die Bundeswehrbeamten gaben ihm nur einen Verweis und machten sich nicht die Mühe, den MAD zu informieren.

Die neueste Enthüllung (von NDR und WDR) ist, dass das Kommando des KSK Anfang letzten Jahres Mitglieder der Eliteeinheit aufforderte, gestohlene Munition „ohne Konsequenzen für den betroffenen Soldaten“ zurückzugeben. Zehntausende Schuss Munition landeten in den „Amnestiekisten“, weit mehr als vermisst gemeldet worden waren (tagesschau, 21. Februar). Aber auch danach noch wurden riesige Waffen- und Munitionsbestände im Besitz von rechtsextremen und faschistischen Mitgliedern von Militär und Polizei gefunden.

Die allgegenwärtige Gleichgültigkeit und regelrechte Sabotage bei der Untersuchung dieser Fälle ist der Grund, warum die alleinige Schuldzuweisung an Innenminister Seehofer für die Verweigerung einer Untersuchung des deutschen Polizeirassismus ein Alibi für den bürgerlichen Staat darstellt. Es stellt sich heraus, dass es auch faschistische Zellen im Verfassungsschutz gibt, z.B. in Nordrhein-Westfalen (wo sie zuständig waren für die Überwachung . . . der Faschisten). Und sie genossen Schutz von den höchsten Ebenen des Staatsapparates. Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen wurde schließlich zum Rücktritt gezwungen, weil er die rassistischen Pogrome in Chemnitz verteidigt hatte. Jetzt ist der CDU-Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht, raus, weil er offen für eine Koalition mit der faschistoiden Alternative für Deutschland (AfD) geworben hat. Und der CDU-Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern ist raus, weil er persönlich eine Waffe aus dem dortigen „Prepper“-Netzwerk gekauft hat.

Wie wir in der letzten Ausgabe von Permanente Revolution (Nr. 4, Winter 2019) festgestellt haben, nähert sich das Programm der Mehrheit der deutschen Bourgeoisie dem der AfD an. So forderte Friedrich Merz, einer der Hauptkandidaten im Kampf um die Nachfolge Merkels, einen absoluten Aufnahmestopp für weitere Flüchtlinge und zog die ranzige faschistische propagandistische Parole aus dem Ärmel, es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen der Zahl der Flüchtlinge und der Zahl der deutschen Arbeitslosen (Die Welt, 16. Dezember 2020).

Reichsflagge vor dem Bundestag


Rechte Demonstranten in Berlin schwenken die Fahne des deutschen Kaiser­reichs vor dem Reichstagsgebäude, 29. August 2020.  (Foto: John Macdougall / AFP)

Am 30. August, während Tausende von Demonstranten Unter den Linden gegen die Coronavirus-Lockdowns marschierten, stürmte eine kunterbunte Bande von Reaktionären und „Reichsbürger“-Faschisten, die die schwarz-weiß-rote Fahne des Kaiserreichs als Hakenkreuzersatz schwenkten, zum Sitz des Bundestages im Reichstagsgebäude in Berlin. Es war eine internationale Blamage für das (CDU-SPD) GroKo-Regime, auch wenn eine Handvoll Polizisten genügte, um sie zu vertreiben.

Zuvor, am 1. Mai 2020, wurde eine Anti-Lockdown-Demonstration auf dem Rosa-Luxemburg-Platz erlaubt, während die Polizei in derselben Nacht die „Revolutionäre 1. Mai“-Demo von mehreren Tausend in Kreuzberg brutal angriff, einschließlich Dutzender Verhaftungen, weil sie gegen das Verbot großer Versammlungen während des Corona-Lockdowns verstoßen habe. Bezeichnenderweise wurde das Verbot linker Proteste vom rot-rot-grünen Senat in Berlin durchgesetzt, während in vielen Städten 1. Mai-Demonstrationen erlaubt waren.

Dies ist ein immer wiederkehrendes Muster. Die Querdenker-Bewegung ist zwar heterogen und umfasst ein Spektrum von Exzentrikern und Spinnern, die von der bürgerlichen Presse gerne als „hart links“ bezeichnet werden, aber sie wird zunehmend von einer Reihe antisemitischer Reaktionäre und offener Faschisten durchdrungen. Angesichts der gesamten Geschichte der polizeilichen Duldung rassistischer einwanderungsfeindlicher, flüchtlingsfeindlicher Mobilisierungen, bis hin zu tatsächlichen Pogromen (wie in Chemnitz 2018), ist die Haltung der Polizei gegenüber „Querdenkern“ nicht überraschend. In Leipzig durften die Anti-Lockdown-Demonstranten am 8. November Amok laufen; in Berlin wurden zehn Tage später die Wasserwerfer der Polizei, die blenden und sogar töten können (z. B. Günter Sare, Frankfurt/Main 1985), eingesetzt, um die Demonstranten sanft zu besprühen.

Auf der Liste der vorgeblich aus Gründen der Volksgesundheit verbotenen Veranstaltungen stehen u.a. ein versuchtes Gedenken an das faschistische Massaker ein halbes Jahr zuvor in Hanau, eine Gedenkveranstaltung zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels im Ruhrgebiet, und eine Demonstration in Frankfurt/Main im April für die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer, die von der Polizei brutal angegriffen wurde. Kürzlich wurden Parteiversammlungen der faschistoiden AfD in Braunschweig erlaubt, doch Mobilisierungen von Antifaschisten wurden weiterhin aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ untersagt.

Die partiellen Stop-and-Go-Lockdowns durch kapitalistische Regierungen, zusammen mit einem Krankenhaussystem, das den Zusammenbruch durch das Hinausschieben von Aufnahmen und frühzeitiges Hinausdrängen von Patienten vermeidet, waren völlig unzureichend, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen. Aber während wir uns den Reaktionären entgegenstellen, die notwendige Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit ablehnen, und wir auf den Erfolg Chinas bei der Mobilisierung der Ressourcen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus verweisen, sind revolutionäre Marxisten dagegen, bürgerliche Regierungen aufzufordern, politische Proteste einzuschränken oder zu verbieten. Was auch immer die angegebenen Gründe sein mögen, wir wissen aus Erfahrung – und der Natur des kapitalistischen Staates – sehr wohl, dass solche Maßnahmen weit mehr gegen Linke und Revolutionäre eingesetzt werden als gegen mörderische Faschisten.

Provokationen der Polizei

Die Welle antirassistischer Proteste, die die USA nach dem Polizeimord an George Floyd im Mai 2020 überrollte, hatte auch Auswirkungen in Europa. Proteste prangerten rassistische Polizeigewalt in Frankreich und das kolonialistische Erbe Großbritanniens und Belgiens an. In Deutschland war das Echo jedoch recht kurzlebig, da ein parteiübergreifender Konsens, einschließlich der „linken“ Sozialdemokraten von Die Linke, die Vorstellung zurückwies, dass es so etwas wie strukturelle rassistische Polizeigewalt gibt. Das alles ist Teil des Bestrebens der „staatstragenden“ Parteien, mit polizeistaatlichen Methoden den Repressionsapparat in Erwartung von Revolten der unterdrückten „Habenichtse“ gegen die vermögenden „Wohlhabenden“ zu verstärken.

Schon früh provozierte die Polizei in Stuttgart eine Revolte, um zu zeigen, dass sie die unverzichtbaren Ordnungshüter sind. Am 20. Juni 2020 schikanierten Polizisten einige Jugendliche und durchsuchten einen 17-Jährigen vor der Staatsoper nach Joints. (Noch vor wenigen Jahren versprachen die Grünen, damals in der Regierung, den Konsum von Cannabis zu „entkriminalisieren“). Es kam zu Schlägereien, Polizeiautos und einige Geschäfte wurden verwüstet. Die Situation sei „völlig außer Kontrolle“, behauptete die Polizei. Am nächsten Tag schrien die bürgerlichen Medien unisono, dies sei eine „nie dagewesene Dimension von Gewalt“. Das ist Unsinn. Im Jahr 2010 entfesselten Stuttgarter Polizisten eine Orgie der Gewalt gegen Demonstranten, die gegen die Ersetzung des historischen S21-Bahnhofs protestierten, schlugen und besprühten Jugendliche mit Pfefferspray und erblindeten einen Mann effektiv mit einer Polizeiwasserkanone.

Diesmal war die Polizei (und die Bild Zeitung) enttäuscht, dass sich unter den Verhafteten so viele deutsche Staatsbürger befanden. Also führten sie durch, was als „Stammbaumforschung“ bekannt wurde, um festzustellen, ob ihre Eltern oder sogar Großeltern aus dem Nahen Osten oder Nordafrika stammen könnten! Der CDU-Sprecher im Bundestag, Mathias Middelberg, warnte vor „unangemessenen Parallelen“ zwischen deutschen und US-amerikanischen Polizisten: „Die ideologische Stimmungsmache gegen unsere Polizei muss ein Ende haben“ (Neue Osnabrücker Zeitung, 23. Juni 2020). Nicht zu übertreffen ist Dietmar Bartsch, Chef der Linkspartei-Bundestagsfraktion, der zwar die Stammbaumforschung als „rassistisch“ kritisierte, aber gleichzeitig twitterte, er verurteile „widerliches Verhalten“ und „rücksichtslose Gewalt“ gegen die Polizei (Spiegel Online, 24. Juni 2020)!

Nicht nur in Stuttgart, der wohlhabendsten Stadt in Deutschland, dem reichsten Land Europas, haben die Behörden zu einem solchen Racial Profiling gegriffen. Ende Oktober, als das Coronavirus durch den Berliner Bezirk Neukölln fegte, posierte dessen stellvertretender Bürgermeister Falko Liecke (CDU) für Fotos vor einem Sportwagen (einem gelben Lamborghini auf der Sonnenallee), der mit Aufklebern von gefälschten Einschusslöchern geschmückt war. Dieser schwachsinnige Stunt war ein Requisit in einem CDU-Wahlkampf, der versprach, „kriminelle Clans“ von den Straßen Berlins zu fegen. Dies ist Teil einer jahrelangen Kampagne gegen sogenannte „arabische Clan“, die sich in Polizeirazzien in Einwanderervierteln im Rheinland und im Ruhrgebiet sowie in Berlin niederschlägt.

Nicht nur die CDU und die rassistische Springer-Presse lechzen nach Blut, auch der Großteil der deutschen „Qualitätsmedien“ ist mit von der Partie. Und die Repression wird von der SPD in einer Koalition mit der CDU in Städten wie Essen und von der Koalition aus SPD, Grünen und Die Linke in Berlin ausgeübt. Als die Pandemie ausbrach, kündigte die Berliner Polizei an, dass die Repression gegen die „Clans“ nicht nachlassen würde – und das hat sie auch nicht. Verschiedene Großfamilien, vor allem Libanesen – und nicht nur Araber, sondern auch Türken oder Kurden – wurden als kriminelle Banden abgestempelt. Und da die Familien Namen wie Chahrour tragen, die unter Libanesen etwa so häufig sind wie Schmidt und Müller unter Deutschen, und da fast jeder Verwandtschaftsgrad ausreicht, gibt es Tausende von potenziellen Verdächtigen. Sie gelten als schuldig, nach einem Prinzip, das der Sippenhaftung im Dritten Reich ähnelt.

Mobilisiert die Macht der Arbeiterklasse!

Besonders seit sie an der Regierung der Hauptstadt beteiligt ist, hat die Linkspartei dem bürgerlichen Staat und seiner Polizei immer wieder ihre Treue geschworen. So wird in einer gemeinsamen Erklärung der rot-rot-grünen Koalitionsparteien in Berlin vom September 2019 zur „Stärkung der Polizei“ und zum „systematischen Ausbau der Sicherheitsbehörden“ aufgerufen. Die seltsame Doppellogik, die damit verbunden ist, zeigte sich in einem Artikel in Neues Deutschland (30. Dezember 2020). Die Überschrift lautet: „Kein Verlass auf den Staat“, während im Text „weiterer Druck für die Entnazifizierung der Behörden“ gefordert wird. Doch jedes Vertrauen auf die Polizei gegen die faschistische Bedrohung, selbst nach einer fingierten Kampagne der „Entnazifizierung“, wie sie in Westdeutschland nach dem Fall des Dritten Reiches 1945 durchgeführt wurde, ist letztlich selbstmörderisch. Was vielmehr notwendig ist, ist die Mobilisierung der Arbeiter und Unterdrückten angesichts der Angriffe durch die faschistisch verseuchten „Sicherheitsorgane“.

Von den Gruppen, die eine gewisse Verbindung zum Trotzkismus beanspruchen, fordert Solidarität,1 eine der beiden Nachfolgegruppen der Sozialistischen Alternative Voran innerhalb der Linkspartei, ebenfalls, sich nicht auf den bürgerlichen Staat zu verlassen – um dann einen detaillierten Plan zu skizzieren, sich auf den bürgerlichen Staat zu verlassen. „Für eine wirkliche Kontrolle der Polizei!“ verkündet ein Artikel (18. Oktober), der mit der tödlichen Illusion hausieren geht, die Bullen würden sich von einem „unabhängigen“ Gremium aus Gewerkschaftern, Migranten, Sozialarbeitern und anderen Sektoren der Bevölkerung untersuchen und dann einstellen und entlassen lassen. Nach den Hanauer Morden (siehe Kasten) griff Solidarität kurzzeitig die Idee von Proteststreiks auf und fragte in ihrer typischen verlogen-naiven Art:

„Oder warum eigentlich nicht mal die Arbeit aus Protest gegen rechten Terror niederlegen? Gegen die RAF in den 1970ern und nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 waren ja auch (symbolische) Arbeitsniederlegungen möglich.“
–SOL Flugblatt vom 20. Februar 2020

Was für eine Aussage! Der DGB zeigte seine Empörung über die Ermordung des Großindustriellen und Ex-SS-Hauptsturmführers Schleyer 1977 mit einer Arbeitsniederlegung und erneut nach dem 11. September, der zur imperialistischen Invasion/Besetzung Afghanistans, einschließlich durch die Bundeswehr, führte. Beide Arbeitsniederlegungen waren Loyalitätserklärungen gegenüber der kapitalistisch-imperialistischen Ordnung. Ein deutlicheres Bekenntnis zur grundsätzlichen politischen Identität von Solidarität mit den antikommunistischen DGB-Spitzen kann man sich kaum vorstellen.

Solidarität und all die anderen Organisationen, die aus der Labour-loyalen Tradition der britischen Militant-Gruppe hervorgegangen sind, behaupten, dass Polizisten Arbeiter seien und nicht die angeheuerten Schützen der Bosse. Die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO)2 täuscht nur sich selbst (und andere), wenn sie Solidarität auffordert, sich ihrer Forderung anzuschließen, die Polizei-„Gewerkschaften“ aus dem DGB zu entfernen. Darüber hinaus fordert RIO, Seehofer zu feuern, wie sie zuvor die Absetzung von Maaßen gefordert hat, als ob das auch nur den geringsten Unterschied machen würde. Im Sommer 2020 spielte RIO mit Forderungen „für die Abschaffung der Polizei, wie sie die progressiven Teile der Bewegung in den USA schon lange fordern“ (Klasse gegen Klasse, 10. Juli 2020). Zum grundlegend reformistischen Charakter dieser Forderung siehe „‚Abschaffung der Polizei‘ – Unter dem Kapitalismus?“ The Internationalist Nr. 60, Mai-Juli 2020. Aber schon im Herbst begnügte sich RIO damit, eine „unabhängige“ Untersuchung rassistischer Polizeiübergriffe zu fordern, ihre „militantere“ Variante der ständigen Forderungen der Linkspartei nach parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (Klasse gegen Klasse, 23. Oktober 2020).

Die Internationalistische Gruppe hat schon immer dazu aufgerufen, „Stoppt die Faschisten durch Arbeiter/Immigranten-Mobilisierung!“ Wie wir 2019 geschrieben haben:

„Die multiethnische Arbeiterklasse in Deutschland wird zunehmend geschwächt, aber ihre Macht bleibt intakt. Die Hauptsache ist die Führung. Wir brauchen eine massenhafte Mobilisierung der Arbeitermacht, um die Faschisten, ihre uniformierten Beschützer und ihre kapitalistischen Hintermänner zu bezwingen, als Teil eines Kampfes für den Aufbau einer Arbeiterpartei, die für die internationale sozialistische Revolution kämpft, um die blutige Herrschaft des Kapitals zu stürzen und ihre Machthaber hinweg zu fegen.“
–„Handelskrieg bedeutet Krieg gegen die Werktätigen“, Permanente Revolution Nr. 4, Winter 2019. ■

  1. 1. Nach einer 2018-19 erfolgten Spaltung des von Peter Taaffe gegründeten und geführten Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI) ist in Deutschland die Sozialistische Organisation Solidarität – SOL mit Taaffes Rumpf-CWI verbunden; die Sozialistische Alternative – SAV ist mit der Internationalen Sozialistischen Alternative verbunden.
  2. 2. RIO ist international verbunden mit der irreführend benannten Trotzkistische Fraktion, die sich Ende der 1980er Jahre von der pseudo-trotzkistischen Strömung von Nahuel Moreno abgespalten hat.