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  April 2021

Zerschlagt die faschistischen Netzwerke durch Arbeiter/Immigranten-Aktionen

Der „Neukölln-Komplex“ – Komplizenschaft
des Staatsapparats mit den Faschisten


Demonstration am 9. April 2016 anlässlich des Todestages von Burak Bektaş.  (Foto: Frank Metzger / apabiz)

Im „Neukölln-Komplex“ offenbart sich ominös und exemplarisch die Verstrickung des politischen, justiziellen und polizeilichen Staatsapparats mit den Nazi-Faschisten. Dieses Phänomen, wovon auf Bundesebene eine Unzahl von Beispielen bekannt sind, kann man in diesem Berliner Bezirk als nur eine Facette eines umfassenden Netzwerks erkennen, von systematischer Zusammenarbeit des Staats mit faschistischen und faschistoiden Kräften.

Neukölln ist ein Stadtteil unter Belagerung – sowohl durch das Corona-Virus, als auch durch den bürgerlichen Staat, in Berlin durch die „rot-rot-grüne“ Koalition von SPD/Die Linke/Grünen verwaltet, besonders durch deren rassistischen Kreuzzug gegen angebliche „Clans“ und gegen Shisha-Bars. Und diese staatliche Repression hat immer ihre faschistischen Vorreiter, obwohl behördlich nur als „rechtsextremistisch“ eingestuft.

Seit 2010 ist Neukölln immer wieder ein Brennpunkt faschistischer Aktivitäten und Attentate, darunter der mutmaßlich von einem Faschisten begangene Mord an Burak Bektaş im April 2012 und der Mord an Luke Holland durch den Faschisten Rolf Zielezinski im September 2015. Dazu kommen, spätestens ab 2016, zusammenfallend mit dem Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD), die fortlaufende Serie von faschistischen Brandanschlägen, Angriffen gegen Immigranten, Morddrohungen gegen Journalisten, Gewerkschafter, Linke, Antifaschisten, Frauen, sowie Angriffen gegen deren Zentren.

Im Februar 2020 wurden dem „rechtsextremistischen Lager“ ab 2016 offiziell 72 Straftaten, darunter 23 Brandstiftungen zugeordnet. Sechs Monate später berichtete der Tagesspiegel (7. Juli 2020), „Seit September 2019 registrierten die Ermittlungsbehörden laut den Angaben der Senatsverwaltung insgesamt 130 rechte Straftaten in Neukölln“. Das wären drei Straftaten pro Woche. Die linke Recherchegruppe Acoabo („Antifaschistische Computeraktion Berlin“) hat jedoch 242 gewaltsame und sonstige Aggressionen von Januar 2016 bis Juni 2020 im Bezirk aufgelistet, als auch 293 Vorfälle von Aufkleben oder Schmiererei von Nazi-Propaganda. Dabei soll der „harte Kern“ der Neuköllner Nazi-Szene aus nur 15 Personen bestehen.

Trotz vielfacher Hinweise und Indizien auf wenige Hauptverdächtige benötigten Polizei und Staatsanwaltschaft mehr als ein Jahrzehnt, um kurz vor Jahresende 2020 in der Brandandschlagserie Anklage gegen zwei notorisch faschistische Gangster zu erheben. Da die Anklage nicht begleitet war von irgendwelchen neuen Enthüllungen über ihre Verbrechen, sah es sehr nach einem überhasteten Versuch aus, diesen politisch verfänglichen Fall „abzuschließen“. Ende Januar waren beide schon wieder auf freiem Fuß.

„Pannen“ bei der Ermittlung faschistischer Gewalttaten

Von Anfang an gab es eine Unmenge von „Pannen“ bei der Ermittlung der Täter und diverse Enthüllungen mit Hinweisen auf direkte Zusammenarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft mit Faschisten. Während im Falle des Mordes an Luke Holland auf offener Straße mit einer Schrotflinte aufgrund zu vieler Zeugen und des offensichtlichen Tatbestandes der Täter Zielezinski von den Strafverfolgungsbehörden nicht verleugnet werden konnte, wurde dessen ebenso offensichtliche rassistische und faschistische Gesinnung vom Gericht bei der Beurteilung des Tatmotivs und hinsichtlich naheliegender weiterer Ermittlungen in Richtung seiner faschistischen Zusammenhänge einfach ignoriert. Das Tatmotiv und ein mögliches Handeln aus rassistischen Gründen konnten nach Angaben des Richters nicht festgestellt werden, obwohl Zielezinski sich unmittelbar vor seiner Tat homophob und rassistisch über Schwule und nicht deutsch Sprechende in seiner ehemaligen Stammkneipe geäußert hatte und Luke Holland Englisch sprach. „Wir sind bestürzt, wie der Richter in Lukes Fall, behaupten konnte, Zielezinski sei kein Nazi. Er hatte so viele illegale Waffen, Nazi-Devotionalien, Adolf Hitler-Büsten in seiner Wohnung, Gerätschaften zum Herstellen von Munition und trotzdem behauptet der Richter, dass er kein Nazi wäre. Das ist eine völlige Fehleinschätzung!“ (Phil Holland, Vater von Luke im April 2017, zitiert in https://berlin-gegen-nazis.de/Veranstaltung/gedenken-an-luke-holland/).

Offiziell handelt es sich also nicht um einen faschistischen, politischen Mord, und die Behörden waren somit auch nicht genötigt, Zielezinskis faschistisches Umfeld zu durchleuchten und seine kriminellen Kameradschaften auszuheben. Wir sehen hier das Muster des vom Staat systematisch vorgebrachten „Einzeltäters“. Die faschistischen Netzwerke werden mit der Einzeltäterthese sorgsam beschützt. Zielezinski bekam noch mildernde Umstände wegen Alkoholisierung anerkannt und kam mit einer Haftstrafe von 11 Jahren und 7 Monaten davon. Sein Umfeld blieb unbehelligt.

Während des Verfahrens zum Mord an Luke Holland stellte sich heraus, dass im Zuge der Ermittlungen zum Fall von Burak Bektaş von einem anscheinend anonymen Zeugen Ende 2013 die Aussage gemacht wurde, dass Rolf Z. als Täter in Frage käme, der hätte ihm bereits 2006 seine Waffe gezeigt und nach Munition gefragt. „Außerdem habe sich Z. von ihm in die Nähe des Tatorts fahren lassen, um sich dort mit seinem Bruder ‚zum Rumballern‘ zu treffen. Diese Informationen hatte der Hinweisgeber bereits 2006 der Polizei mitgeteilt“ (https://rechtsaussen.berlin/2020/09/luke-holland-wird-in-neukoelln-ermordet/).

Obwohl es also in den zwei Mordfällen klare Hinweise auf rechtsextremistische Hintergründe gab, wurde hier nicht weiter in diese Richtung ermittelt. Ähnlich mit der Brandanschlagserie. „Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Fall, in dem so viel bekannt ist und es dennoch kein einziges Ermittlungsergebnis gibt“, äußerte sich im Tagesspiegel (21. Dezember 2019) Karin Wüst von der Gruppe Basta. Es sei „einfach nicht nachvollziehbar, warum sich derart viele Pannen häufen würden, außer es gibt Verbindungen zwischen LKA-Beamten und Rechtsextremisten“, meinte sie.

Die Gruppe Basta protestiert zusammen mit Betroffenen und Unterstützern der Betroffenen der rechten Anschläge seit Mai 2019 jeden Donnerstag vor dem Landeskriminalamt in Berlin gegen offensichtliche Nazi-Verbindungen im LKA und für die Aufklärung der rechten Terror-Anschläge. Rechte Polizisten machen dort aus ihrer rassistischen und pro-faschistischen Gesinnung keinen Hehl: „Den rechten Arm zum Hitlergruß heben, tue ja schließlich niemandem weh, außerdem gehe die Kriminalität fast ausschließlich von Flüchtlingen aus“, so einer der Polizisten des LKA vor Ort (ebenda).

Schaufenster der Leporello-Buchhandlung, durch Steinwurf bei einem faschistischen Angriff beschädigt, Dezember 2016.  (Foto: Privat / Der Tagesspiegel)
Die ungelösten Fälle mehren sich ständig weiter. Als sich Heinz Ostermann, Inhaber der Buchhandlung Leporello, 2016 der Initiative Neuköllner Buchläden gegen Rechtspopulismus und Rassismus anschloss, wurde er gleich darauf Opfer von faschistischen Angriffen, 2016, 2017 und 2018, zuerst durch Steinwürfe auf seine Buchhandlung und dann durch zwei Brand­anschläge auf sein Auto, zuletzt direkt vor seiner Wohnung.

Der Brandanschlag auf Ostermanns Auto im Februar 2018 fand in derselben Nacht statt, wie der Brandanschlag auf das Auto von Ferat Kocak, Vorstandsmitglied von Die Linke in Neukölln. Ermittlungsergebnisse gibt es keine, und die Ermittlungen bezüglich der Steinwürfe waren bereits Anfang 2019 eingestellt worden, ebenso die Ermittlungen bei vielen anderen Betroffenen. Weshalb das so ist, liegt auf der Hand: es gab und es gibt kein Interesse an Ermittlungsergebnissen.

Sonderkommissionen, Sondermittler: Dampf ablassen

Tatsächlich reicht der Neukölln Komplex bis tief in den politischen Apparat des kapitalistischen Staats, auch unter den reformistischen staatstragenden „bürgerlichen Arbeiterparteien“. SPD Innensenator Andreas Geisel stellte sich gegen die von Teilen von Die Linke geforderte Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA). Stattdessen setzte Geisel weiter auf die von ihm unter Druck Anfang 2019 ins Leben gerufene polizeiliche Sonderkommission (Soko) „Fokus“. Diese wurde wesentlich aus LKA-Beamten zusammengesetzt, darunter die Staatsschutzabteilung LKA-5, dessen Leiter zuletzt selber in Verdacht geraten ist, den Nazis nahe zu stehen. Auf jeden Fall sollte sie nur dazu dienen, Dampf abzulassen.

Was hat also diese Sonderkommission bewirkt? Nach Beschwerden von Nebenklägern über mangelnde Ermittlungsergebnisse wurde behauptet, die Soko habe verschlüsselte „Feindeslisten“ mit über 500 Personen entschlüsselt. Diese waren gespeichert auf den Computern des mehrfach, u. a. wegen schwerer Körperverletzung, inhaftierten, bereits lange unter Verdacht stehenden ehemaligen NPD-Vorsitzenden des Kreis Neukölln, Sebastian T., und des ehemaligen AfD-Vorstandsmitglieds Tilo P., seit 2003 bekannt für Beteiligungen an gewalttätigen Nazi-Angriffen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Feindeslisten und Namen bereits lange bekannt waren und die betroffenen Personen zuvor nur nicht informiert worden waren. Im November 2019 hat die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage in 14 Fällen gegen Sebastian T. und Tilo P. erhoben, jedoch nicht wegen Brandstiftungen und Morddrohungen. Und jetzt, aufgrund der Entscheidung der bürgerlichen Justiz, laufen die beiden wieder frei herum.

Das Auto von Ferat Kocak brennt beim Brandanschlag gegen seine Familie, Februar 2018. (Foto: Familie Kocak / dpa)

Ein anderes Beispiel ist die Abgeordnete Anne Helm von Die Linke, die auf dieser Feindesliste stand, deren Postkasten Ende 2013 gesprengt worden war, bei der es einen Einbruchversuch gab und deren persönliche Post abgefangen worden war. Die Polizei ermittelte lediglich wegen Sachbeschädigung, ohne Ergebnisse. Oder der faschistische Brandanschlag im Februar 2018 gegen Kocak, ebenso Abgeordneter von Die Linke, dessen Auto völlig zerstört wurde. Obwohl in diesem Fall gegen Sebastian T. und Tilo P. ermittelt wurde, gab es auch hier keine Resultate. Die Soko Fokus stellte in ihrem Bericht auch fest, dass es neun weitere Straftaten gab, die der rechten Anschlagsserie zuzuordnen seien. Fast alle Betroffenen waren entweder wiederholt Opfer von Anschlägen gewesen oder gegen Faschismus engagiert. Diese offensichtlichen Zusammenhänge waren in den ursprünglichen Ermittlungen einfach ignoriert worden.

Man vergleiche dies mit der Brandstiftungsserie zwischen 2009 bis 2011 gegen Nobelkarossen, hinter der vielfach ein unpolitischer frustrierter 27-jähriger Arbeitsloser stand. Nach dessen Geständnis rechtfertigte der damalige Innensenator Ehrhart Körting (SPD) die gezielte Verfolgung von Linken als Täter. Man habe den für politisch motivierte Taten zuständigen Staatsschutz die Ermittlungen bei Brandstiftung gegen teure Fahrzeuge übernehmen lassen, weil man sich nicht dem Vorwurf aussetzen lassen wollte, „der Senat sei auf dem linken Auge blind“. Eine linke 21-Jährige saß 2009 fünf Monate lang in Untersuchungshaft als Folge dieser Jagd auf Linke, die sich der Berliner Senat monatlich mehrere Millionen für nächtliche polizeiliche Sondereinsätze kosten ließ. Sie musste sich durch drei lange Prozesse kämpfen, ehe ihre Unschuld 2011 festgestellt wurde.

Ein Grund für die fehlenden Ergebnisse kam im Sommer 2020 ans Licht. Im Juni wurde bekannt, dass ein Polizeihauptkommissar Details der Ermittlungen an eine AfD-Chatgruppe weitergegeben hatte. Dann, im August, soll der bisherige Leiter der Abteilung Staatsschutzdelikte, Matthias Fenner, Tilo P. selbst signalisiert haben, von seiner Seite gebe es nichts zu befürchten. „Die Staatsanwaltschaft ist auf unserer Seite. Der ist AfD-Wähler“, prahlte Tilo P. schon im März 2017 (Süddeutsche Zeitung, 6. August 2020). Diese Aussage wurde durch den Anwalt eines der Opfer aufgedeckt; sie wurde sowohl von der Polizei als auch von verschiedenen Staatsanwälten ignoriert. Nicht zufällig war Fenner die treibende Kraft hinter der Massenverhaftung von 100 Demonstranten, die im September 2019 einen reaktionären Anti-Abtreibungsmarsch in Berlin friedlich blockiert hatten.

Als die ersten Ergebnisse dieser Soko im Frühjahr 2020 als Bericht vorlagen, erklärte SPD-Innensenator Geisel diese gleich zur Verschlusssache. Der Bericht wurde den Abgeordneten des Innenausschusses kurzfristig und nur hinter geschlossener Tür eines Geheimschutzraums vorgelegt und ohne Protokoll besprochen. Die Linke, seit 2016 Regierungspartei in Berlin, forderte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA). Die Grünen aber, als dritter Bestandteil der amtierenden Koalition, forderten statt eines PUA einen Sonderermittler, vorgeblich, weil PUAs träge und langsam arbeiten würden. Ein Sonderermittler wie im Fall Amri1 sollte es richten, d.h. den staatlichen Schmutz unter den Teppich kehren und die Aufklärung endlos verschleppen.

So kam es, dass Geisel nach dem Abschlussbericht von Fokus, um die Wogen weiter zu glätten, noch zwei „unabhängige“ Sonderermittler benannt hat. Einer von ihnen, Herbert Diemer, war der leitende Staatsanwalt im Fall von Beate Zschäpe, dem letzten überlebenden Mitglied des offiziell anerkannten Teils des NSU. Dieser Prozess und die damit einhergehenden endlosen Ermittlungen in den verschiedenen Bundesländern waren ein Musterbeispiel dafür, wie man nichts Wichtiges über die Netzwerke des faschistischen Untergrunds und deren Verbindungen zu Polizei und Geheimdiensten aufdecken kann.

Deshalb war es kaum verwunderlich, dass Geisels Sonderermittler im Februar 2021 einen Zwischenbericht vorlegten, der die Polizei im Grunde entlastete. Worauf es den Grünen, wie auch Geisel und seiner SPD, ankommt, ist, zu verhindern, dass die ungeschönte Wahrheit ans Licht kommt – der Staat soll die Kontrolle darüber behalten, was veröffentlicht wird und was nicht. Die Sondermittler wiesen nur auf das Offensichtliche hin: dass ein Großteil der Neuköllner Bevölkerung kein Vertrauen in die Polizei hat. Dieses Vertrauen wiederherzustellen biedert sich Die Linke mit ihren endlosen Forderungen nach den zahnlosen, stets geknebelten parlamentarischen Untersuchungsausschüssen an.

„In Neukölln verliere die Bevölkerung das Vertrauen in den Rechtsstaat“

Am 19. Juni 2020 wurde ein Lieferwagen vor der Konditorei Damaskus im Berliner Stadtteil Neukölln in Brand gesteckt und das Schaufenster mit einem Hakenkreuz beschmiert.   (Fotos: Morris Pudwell; rbb)

Was die Herrschenden antreibt, ist ausgedrückt in den Worten des Sprechers der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner, „in Neukölln verliere die Bevölkerung das Vertrauen in den Rechtsstaat. Erst recht, wenn die Polizei endlich einige Taten aufklären konnte, aber die meisten dann doch nicht bestraft würden“ (Tagesspiegel, 19. Februar 2020). Auch bei der Versetzung zweier in Verdacht geratener Staatsanwälte, mit den Nazis zu sympathisieren, war die Sorge um das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen die treibende Kraft. So begründete die Generalstaatsanwältin Margarete Koppers die Versetzung: „Es darf nicht ein noch so geringer Zweifel daran bestehen, dass wir Straftaten aus dem rechtsextremistischen Phänomenbereich nicht, nicht mit ausreichender Intensität oder nur schleppend verfolgen“ (Die Welt, 19. August 2020). Wie zum Hohn ihrer eigenen Worte erhielten dann beide Staatsanwälte den Persilschein der Unbefangenheit von ihr, und wurden nur in eine andere Stelle versetzt.

Die Bourgeoisie und ihre ausführenden Organe machen sich Sorgen darum, dass ihnen die Legitimität zu herrschen mehr und mehr entgleitet. Indessen, für die Betroffenen, Linke, Frauen, Gewerkschafter, Journalisten und alle potentiellen Opfer der Faschisten, geht es um eine Frage von Leben und Tod: „Unser Problem ist, dass wir nicht wissen, ob wir den Polizisten vor unserer Haustür vertrauen können oder nicht“, äußerte sich Ferat Kocak aus persönlicher Erfahrung, nachdem er mit seiner Familie Ziel der faschistischen Brandanschläge wurde, und er aktiv in der Kampagne zur Aufklärung der Anschlagsserie ist (Tagesspiegel, 17. Februar 2020). Vertrauen in die Polizei, oder nicht? Wir Marxisten haben seit langem die Antwort auf dieses Problem gegeben. Der Staat und seine Organe sind der Unterdrückungsapparat der Bourgeoisie. Sie schützen die Faschisten, um sie bereitzuhalten für den Zeitpunkt, ab dem ihre Dienste für die herrschende Klasse dringend notwendig werden.

Die Internationalistische Gruppe bei Berliner Demo gegen Polizeigewalt, Dezember 2020: „Unter Aufsicht des ‚rot-rot-grünen‘ Senats greifen Nazis und Polizei Linke und Immigranten an – Für eine revolutionäre Arbeiterpartei!“ und  „Nieder mit den rassistischen ‚Anti-Clan‘ und Shíshabar-Razzien des ‚rot-rot-grünen‘ kapitalistischen Berliner Senats!“ (Foto: Permanente Revolution)

Gleichzeitig ist die Linkspartei, als Regierungspartei der „rot-rot-grünen“ Volksfront, die Berlin heute verwaltet, an der rassistischen Repression gegen Immigranten, der Zerstörung linker Wohnprojekte zur Verwirklichung der Profite von Spekulanten und Kartellen und allgemein an dem systematischen und massiven Ausbau des staatlichen Unterdrückungsapparats beteiligt. Das Elend der Linken ist damit verbunden, dass sie sich durch ihre Regierungsverantwortung mit den Tätern gemein machen und sich dem Kampf um wirklich unabhängige Aktion der Arbeiterklasse entgegenstellen. Und diese Misere weitet sich auch aus auf die kleineren linken Gruppierungen, die in und um Die Linke herumkreisen. Kennzeichnend dafür ist die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), international mit der falsch benannten Trotzkistischen Fraktion verbunden.

Also, nach jahrelangem Wegsehen von der faschistischen Verseuchung der Berliner Polizei griff die SPD zu einer Ermittlung durch eine hausinterne Sonderkommission; die Grünen wollten einen Sondermittler (und haben einen bekommen); die Linken haben sich für einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss ausgesprochen, ohne Erfolg. Seinerseits will RIO eine unabhängige Untersuchungskommission. Im letzten Sommer, als der Mord an George Floyd durch einen Polizisten in den USA auch in Deutschland Proteste auslöste, schrieb RIO: „Es braucht eine konsequente Aufklärung aller Fälle und Morde“ durch polizeiliche Gewaltanwendung und auch von faschistischen Gewalttaten „durch unabhängige Untersuchungskommissionen“ (Klasse gegen Klasse, 13. Juni 2020). Jetzt ergänzt sie die Forderung: „Wir brauchen unabhängige Untersuchungsausschüsse, gewählt von migrantischen Organisationen und Gewerkschaften“ (Klasse gegen Klasse, 2. März).

Der Titel dieses Artikels lautet: „Anschlagsserie in Neukölln: Die Polizei wird uns nicht helfen“. Im Sommer meinte sie, „der Staat ist kein ehrlicher Makler“ („Rechter Terror in Neukölln“, Klasse gegen Klasse, 6. Juli 2020). Im Herbst schrieb sie: „Neonazi-Strukturen in der NRW-Polizei. Kein #Einzelfall. Kein Vertrauen in den Staat“ (Klasse gegen Klasse, 16. September 2020). All diese Formulierungen, auf die eine oder andere Weise, ruhen auf der irrigen Vorstellung, der bürgerliche Staat sei irgendeine dritte Kraft, der man freilich „nicht vertrauen kann“, die „nicht helfen will“ und die nicht „ehrlich“ vermitteln wird, aber auf die man Druck ausüben soll. Und das tun diese Pseudo-Trotskisten explizit, als sie nach dem Massenmord in Hanau schrieben: „Die Regierung muss dazu gezwungen werden, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen: die Entwaffnung der Faschist*innen und ihrer Vereine, die Auflösung des Verfassungsschutzes…“ (Klasse gegen Klasse, 26 Februar 2020).

Es handelt sich hier um fatale reformistische Illusionen in den kapitalistischen Staat, Kennzeichen der Politik von Klassenkollaboration. Während sie sich an den Staat richten, die faschistischen Banden zu entwaffnen, wird dieser viel eher die Arbeiterorganisationen entwaffnen, wie es die chilenische Volksfront von Salvador Allende 1973 tat, und damit den Weg zum Sieg des Pinochet-Putsches ebnete. Die Idee, dass die Polizei, Militär, Geheimdienste und Justiz etlichen Gewerkschaftern, Linken, Migranten und Betroffenen Zugang zur „Offenlegung sämtlicher Akten“ erlauben würde ist reiner Irrsinn, sowie auch die Forderung nach der Auflösung der poli­ti­schen Poli­zei, bzw. der Polizei selbst, im Rahmen des Kapitalismus. Zudem ist der „demokratische“ bürgerliche „Rechtsstaat“ letzten Endes eine viel größere Gefahr für die Werktätigen und Unterdrückten als die bis jetzt relativ kleinen faschistischen Banden, deren Gefährlichkeit gerade auf ihrer Verflechtung mit dem Staat ruht.

Nein, es handelt sich nicht um Einzelfälle, auch nicht nur um „Strukturen“ innerhalb des Staatsapparats: es geht um den Staat selbst. So sehr RIO den „unabhängigen“ Charakter seiner Traumkommission betonen mag, dass sie sich auf die „Mobilisierung“ basieren soll, ist ihr Zweck, „von außen her“, Druck auf den Staat auszuüben, anstatt gegen den kapitalistischen Staat und seine Unterdrückungsorgane auf die Straße zu gehen. Und wenn derart idealisierte Untersuchungskommissionen die Tatsache „enthüllen“ – große Überraschung! –, dass die Staatsmacht mit faschistischen und faschistoiden Elementen und ihren Helfershelfern durchsetzt ist, was dann? Unsere Aufgabe als Revolutionäre ist nicht, die Massen in die Sackgasse einer unmöglichen „Entnazifizierung“ oder gar „Demokratisierung“ des bürgerlichen Staats zu locken, sondern sie zum hartnäckigen Klassenkampf auf den Weg zur Revolution zu führen. Die Internationalistische Gruppe sagt: Die Polizei ist nicht reformierbar. Polizisten sind keine „Arbeiter in Uniform“, sondern der bewaffnete Arm der herrschenden Klasse. Polizei raus aus dem DGB!

Der Ruf nach „unabhängigen Untersuchungsausschüssen“ ist ein Markenzeichen der „Trotzkistischen Fraktion“, den sie in aller Welt wiederholt. Gegenwärtig rufen sie auf zu einer „unabhängigen Untersuchung der rechten Gewalt“ vom 6. Januar, als eine rassistische Menge das Kapitol der USA überfiel. Diese Untersuchung „muss demokratisch geführt sein, von unabhängigen Anwälten, antifaschistischen Organisationen und Arbeitergruppen. Sie müssen Zugang zu dem haben, was der Staat weiß…“ (Left Voice, 13. Februar). Wie sie diesen Unsinn bewirken wollen, bleibt unerwähnt. Solche Losungen, so wie ihre Lieblingsforderung nach einer „konstituierenden Versammlung“, überall und immer, bilden ein „demokratisches“ Etappenprogramm. Heute rechtfertigen sie sich mit der Behauptung, die Massen seien unreif für den Endkampf. Aber solche „Wahrheitskommissionen“ können nur verwirklicht werden in dem Moment, in dem ein Umsturz möglich ist, und dann dienen sie nur zur Ablenkung vom Kampf für die Revolution.

Arbeiter- und Immigranten-Verteidigung in Richtung Revolution

All diese Forderungen zur Untersuchung von dem was schon bewiesen ist – dass der Staatsapparat mit Nazis durchdrungen ist – sind ein Appell an den Staat, eine Säuberung des Staatsapparats von den Faschisten zu unternehmen. So riefen die Sozialdemokraten anfangs der Dreißiger, „Staat greif zu!“ Leo Trotzki hat mehrmals gegen diese Losung polemisiert. In seiner Schrift, „Bürgerliche Demokratie und der Kampf gegen Faschismus“ (Januar 1936) betonte der bolschewistische Revolutionär, die bürgerlichen Politiker würden „den Faschismus niemals kaltstellen oder gar ausrotten; er wird ihn höchstens in Schach halten. Daher ist die Losung, Auflösung und Entwaffnung der faschistischen Banden durch den Staat (die deutschen Sozialdemokraten schrien: ‚Staat greif zu!,‘) und das Abstimmen für ähnliche Maßnahmen durch und durch reaktionär.“ RIO, gib acht!

Die IG vor dem Neuköllner Rathaus, Februar 2020: „Statt Verbots-Illusionen: Stoppt Nazis durch Arbeiter/Immigranten-Mobilisierung“ und „SPD/LINKE: Verwalter des Kapitalismus – Für eine revolutionäre multiethnische Arbeiterpartei“.  (Foto: Permanente Revolution)

Statt sich an den Staat zu richten, betonte Trotzki immer wieder die Notwendigkeit einer vereinten Verteidigung der Arbeiterklasse gegen die faschistischen Schläger. Nach dem ersten Wahlerfolg der Nazis schrieb er 1930, die Kommunisten sollen „zur Verteidigung jener materiellen und geistigen Positionen aufrufen, die das Proletariat in Deutschland bereits errungen hat“, und zwar seiner „politischen Organisationen, seiner Gewerkschaften, seiner Zeitungen und Druckereien, seiner Heime, Bibliotheken“, und „in jedem Betrieb, in jedem Arbeiterviertel und Bezirk“ („Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland“). Heutzutage, im bedrohten Neukölln, heißt das, für volle Staatsbürgerrechte für alle Immigranten, und für gemeinsame Arbeiter- und Immigrantenverteidigung kämpfen, um die Macht der Arbeiterklasse gegen die Faschisten und ihre amtliche Schützer zu mobilisieren.

Die Bourgeoisie zeigt sich unwillig, sich die Kosmetik für die demokratische Maskerade ihrer zunehmend unverhüllten Diktatur aufzutragen. Ein Teil denkt, ein allzu intimer Blick aus der Nähe auf die Fratze ihrer Diktatur könnte zu sehr erschrecken; ein anderer Teil arbeitet ohnehin bereits längst an der Rückkehr zu den Zeiten, in denen auf jegliche Maskerade verzichtet wird. Wie wir mehrmals betont haben, sind sich die Herrschenden bewusst, und das nicht nur in Deutschland, dass sie einen verstärkten, bonapartistisch geprägten Staat brauchen, um sich für die vorhersehbaren Unruhen der Werktätigen und Unterdrückten im zerfallenden Kapitalismus vorzubereiten, dessen Versinken in die Barbarei im Rampenlicht der Corona-Pandemie immer deutlicher zu erkennen ist.

Das, was wir in Neukölln beobachten können, ist die durchgreifende Vernetzung von Faschisten und bürgerlichem Staatsapparat. Auf Bundesebene sehen wir lauter Beispiele – Nazis und Preppers mit Todeslisten bei KSK und andere Bundeswehreinheiten; NSU-Verbindungen bei der hessischen Polizei; Hitlerabbildungen und Hakenkreuzsymbole bei Chat-Gruppen der Nordrhein-Westfälischen Polizei; faschistische Unterwanderung des Verfassungsschutzes – von dem was sich in Neukölln auf lokaler Ebene als flächendeckend beweist. Die Berliner Polizei war seit jeher vollgestopft mit Nazis, Mitte der Achtziger ein Herd der faschistischen Republikaner. Polizisten decken regelmäßig Nazis, wenn diese ihre Drecksarbeit verrichten, LKA-Beamte blockieren Ermittlungen, VS-Beamte durchstechen Interna an die Betroffenen, Bürobeamte laden Personalien herunter zur Weitergabe an Nazi-Täter.

Es geht nicht nur um „rechtsextremistische Strukturen“ in der Polizei, die es offenkundig gibt, sondern darum, dass der ganze Repressionsapparat (Polizei, Militär, Geheimdienste, Anwaltschaft) – der Kern des bürgerlichen Staats – mit Faschisten in einem Schutzverband steht. Man kann in Neukölln auch die Zusammenarbeit der AfD – und nicht nur ihres völkisch-faschistischen „Flügels“ – mit Nazis der NPD feststellen, von ganz oben im Kriminalamt bis nach unten im Revier und auf der Straße. Dies ist umso wichtiger, weil sowohl die bürgerlichen Medien und Politiker als auch die reformistische Linke die AfD mit dem verharmlosenden Etikett „Rechtspopulisten“ bezeichnen (in Gegenüberstellung zu „Linkspopulisten“ wie die Wagenknecht‘sche Aufstehen-Bewegung?). Dass es vielmehr eine Arbeitsteilung zwischen der faschistoiden AfD und den regelrechten Faschisten gibt, wird hier im Bezirk bestätigt.

Man sieht auch die Verkettung von antikommunistischem und ausländerfeindlichem Terror. Alles spricht dafür, dass es dieselben Faschisten sind, die Brandanschläge gegen linke Politiker verüben und Schaufenster von arabischen Cafés einschlagen. Beide Arten sind von der Polizei durch Razzien gegen Shishabars und Verbote von linken Demos angestachelt. Die Nazi-Hetze gegen Juden geht weiter, und ist mit ständigen Aggressionen gegen Immigranten und Menschen von nahöstlicher und afrikanischer Herkunft gesteigert. Die nationalistische Hysterie verbreitet sich gleichzeitig mit – und als Konsequenz des – Verfalls des verfaulenden, vom Nationalstaat bedingten, Kapitalismus. Das imperialistische Bündnis der Europäische Union kann das nicht überwunden, wie das Fiasko der COVID-Bekämpfung beweist. Nur der Kampf für die Sozialistischen Vereinigten Staaten Europas bietet einen Ausweg.

Die kapitalistische Klasse und ihr Staat halten die Faschisten im Bereitschaftszustand, um diese als Speerspitze für rassistische Spaltungen unter den Unterdrückten und der Arbeiterklasse zu entfesseln, um aufkeimenden Widerstand gegen ihre ökonomischen und sozialen Austeritätspläne, ihre imperialistischen Kriege und Verteilungskämpfe um Weltmärkte und Ausbeutungssphären im Inneren des Landes zu zerschlagen. Gleichzeitig dient die Volksfrontpolitik der Reformisten, die sich zu ihrer Rettung an den bürgerlichen Staat richten, dazu, die Massen vom Klassenkampf abzuhalten. Wie Trotzki im Übergangsprogramm von 1938 feststellte, „Die ‚Volksfronten‘ auf der einen, der Faschismus auf der anderen Seite, dies sind die letzten politischen Reserven des Imperialismus im Kampf gegen die proletarische Revolution“.

Druck auf den bürgerlichen Staat auszuüben, dass er vor den Nazis schütze, entwaffnet die Arbeiterklassse, Appelle an den Staat für ein Verbot der Nazis stärkt den unterdrückerischen Staatsapparat nur weiter – schärfere Gesetze und Verbote werden vor allem zur Unterdrückung von Linken, Immigranten und der ganzen Arbeiterklasse in Anwendung gebracht. Die Internationalistische Gruppe kämpft stattdessen für Arbeiter/Immigranten-Mobilisierungen. Der Kampf gegen die Faschisten erfordert eine revolutionäre, multiethnische Arbeiterpartei, um den Kampf für eine sozialistische Revolution anzuleiten, die allein in der Lage ist, die braune Pest ein für alle Mal zu beseitigen. ■


  1. 1. Betrifft Anis Amri, der islamistische Lastwagenfahrer der auf dem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 elf Menschen tötete. Es gab Vertuschungsversuche vom Berliner LKA, um die Beendung der telefonischen Überwachung vier Monate vor dem Attentat zu rechtfertigen.